Offene Arme und kühne VisionenVon Olaf Glöckner Die Liberalen in Hameln wachsenund planen ein Gotteshaus Am Anfang stand eine spontane Freundschaft. Die Amerikanerin Rachel Dohme (40), geboren in Pennsylvania, doch seit mehr als 23 Jahren in Niedersachsen ansässig, traf auf die ukrainische Immigrantin Polina Pelts (55). Das war 1992, und es war die Zeit, in der sich die Ankunft jüdischer Emigranten aus der aufgelösten Sowjetunion mit der Hoffnung auf ein gestärktes, erwachendes Judentum in Deutschland zu verbinden begann. Polina Pelts und ihre Familie kamen aus Odessa, einer Stadt, die jüdische Kultur und Religion im 19. und teilweise auch 20. Jahrhundert in tiefen Zügen geatmet hat. Doch als Familie Pelts Odessa verließ, hatte die Metropole am Schwarzen Meer auch 70 Jahre Sowjetdiktatur und Bürgerkrieg, den Zweiten Weltkrieg und das Trauma des Holocaust hinter sich. In Odessa konnte man nicht nur von Narben bei der Jüdischen Gemeinde sprechen im Prinzip existierte sie nur noch in kleinen, bruchstückhaften Resten. «Dank unserer Eltern hatten wir einiges an Tradition vermittelt bekommen. Wir wussten den Schabbat zu feiern, wussten, wie Pessach gestaltet wird, und natürlich konnten wir auch ein bisschen Jiddisch. Aber sonst war keine Verbindung mehr zum Judentum», erinnert sich Polina Pelts. Die ersten Wochen in Deutschland mögen ihr und ihrer Familieauch Tochter Faina und Familierecht skurril vorgekommen sein. Abgereist aus einer Millionenstadt, fanden sich die Emigranten in dem kleinen niedersächsischen Aufnahmelager Hasperde wieder. Hier waren zunächst nur wenige jüdischer Helfer zur Stelle. Eine Ausnahme war Rachel Dohme, die die Zeichen der Zeit erkannt hatte und unverzüglich praktische Hilfe und moralischen Beistand anbot. Sie begann umgehend, mit den Neuankömmlingen Schabbatot zu feiern, dann auch Purim und weitere jüdische Feste. Von den in der Nähe stationierten Basen der US Army organisierte Rachel Dohme eine Kleidersammlung, der LIONs Club spendierte Fahrräder. Dann ging die Suche nach Wohnungen, aber auch regelmäßigen Treffpunktmöglichkeiten los. Die Ankömmlinge aus Odessa ahnten nun: Sie kommen in eine völlig andere Welt, mit fremden Maßstäben, Wertemustern und Alltagsstrategien. Heimat wird fehlen, Arbeit vielleicht auchdoch es gibt ein paar sichere, menschliche Häfen. 200 Mitgliederfünf Nationen Die Freundschaft zwischen Rachel Dohme und Polina Pelts wuchs weiter, und im Februar 1997 waren sie soweit, mit weiteren 16 jüdischen Frauen und Männern die Liberale Jüdische Gemeinde Hameln zu gründen. Mehr als ein halbes Jahrhundert hatte es in der 30.000-Seelen-Stadt kein jüdisches Gemeindeleben mehr gegeben. Ein Anfang war getan, für den es gleichwohl leidenschaftlicher Optimisten bedurfte. Heute, acht Jahre später, zählt die Gemeinde rund 200 registrierte Mitglieder aus mindestens fünf Nationen. Neben vielen Menschen aus der früheren Sowjetunion, einigen einheimischen Deutschen und der amerikanischen Vorsitzenden selbst haben auch einige Israelis und Südamerikaner den Weg zum Gemeindezentrum in der Bahnhofstraße gefunden. «Gemeindesprache ist natürlich deutsch», weiß Rachel Dohme zu berichten, «aber wir versuchen, denjenigen Mitgliedern, die noch große Sprachprobleme haben, die Kommunikation zu erleichtern.» Das gilt auch für die Gottesdienste: Ein Teil der liturgischen Materialien liegt gleich in drei Sprachen vorHebräisch, Deutsch und Russisch. Gottesdienste finden regelmäßig statt, auch wenn es im Moment noch keinen fest angestellten Rabbiner für die Gemeinde gibt. In den ersten Jahren kam viel Unterstützung vom damaligen Landesrabbiner Walter Homolka. Auch Rabbiner Henry Brandt war zur Stelle, wenn dringende religiöse und organisatorische Hilfe vonnöten warbeispielsweise beim Erwerb eines eigenen jüdischen Friedhofes. In den vergangenen Jahren konnte die Gemeinde, dank einer Förderung durch den Europäischen Zweig der World Union of Progressive Judaism, von der israelisch-britischen Rabbinerin Irith Shillor betreut werden, die jetzt allerdings einen Ruf auf die Britische Insel erhielt. Mit dem Abraham Geiger Kolleg, dem Rabbinerseminar der Liberalen in Deutschland, besteht eine Vereinbarung, ein bis zwei Mal pro Monat einen Studenten oder eine Studentin bei religiösen Tätigkeiten einzusetzenwas von der Leitung des Gottesdienstes bis hin zum religiösen Unterricht für Kinder und Erwachsene reichen kann. Erev Schabbatund die Stühle reichen kaum Freitagabend im Gemeindezentrum in der Bahnhofstraße. Rabbinerstudent Gabor Lengyel ist aus Potsdam angereist, um den Schabbatgottesdienst zu leiten. Er wird einen Gemeinderaum vorfinden, der schier aus den Nähten platzt. Als Kantorin hilft an diesem Abend, wie bei jedem Gottesdienst, Rachel Dohmes Tochter Rebekka aus. Drei Generationen von Besuchern sitzen nebeneinander, und mit sichtlichem Vergnügen stürmen die Mädchen und Jungen am Ende des Gottesdienstes nach vornzum Kindersegen. Wie in anderen Gemeinden auch, bleiben dann viele Besucher noch zum Kiddusch. Eine lange Tafel ist hergerichtet, doch die Stühle reichen kaum aus. «Noch ein Grund mehr, möglichst bald eine Synagoge mit eigenem Gemeindezentrum zu eröffnen», meint der Gemeindemitglied Dieter Shmuel Vogelhuber, der für die Zuwanderer einen eigenen Deutschkurs für Fortgeschrittene anbietet. Fast alles in der Hamelner Liberalen Gemeinde läuft über das Ehrenamtnichtsdestotrotz ist das Betreuungsspektrum in wenigen Jahren vielfältig geworden, einschließlich der besonders notwendigen Dinge. Noch in der Gründungsphase entstand eine Chevra Kadischa, Bikur Cholim ist organisiert, auch die Kinder- und Jugendarbeit ist im Aufbau. Vor allem den russischsprachigen Mitgliedern ist es zu verdanken, dass auch das Kulturleben die Menschen innerhalb und außerhalb der Gemeinde sehr anspricht. Valerij Friedman hat gemeinsam mit einigen anderen Mitstreitern die Musikgruppe «Schalom» aufgebaut, welche mittlerweile auch regelmäßige öffentliche Auftritte hat. Anfangs vorwiegend russischem Repertoire verpflichtet, sind die Sänger, Pianisten und Geigenvirtuosen längst dazu übergegangen, auch hebräische und jiddische Lieder in das Programm einzubauen. Doch nicht nur die Künstler haben eine Chance, sich in der Hamelner Gemeinde kreativ einzubringen. Volodymyr Pesok gibt «Einführungsseminare in das Judentum» in Russisch, Emma Levidinska bietet Gesundheits- und Yogakurse, Josef Pelts engagierte sich beim Aufbau einer gemeindeeigenen Bibliothek. Die besteht hauptsächlich aus Schenkungen, ein eigener Bibliotheksetat ist noch Zukunftsmusik. Immerhin, so Josef Pelts, seien um die 60 ständigen Nutzer registriert. Projekt Synagogenbauam authentischen OrtAlle in der Hamelner Gemeinde wissen, dass im ersten Jahrzehnt nach der Neugründung wohl keine Bäume in den Himmel wachsen können. Oder vielleicht doch? Anfang dieses Jahres sorgten Rachel Dohme und ihre Freunde für Medienschlagzeilen, als sie das ehrgeizige Projekt eines Synagogenneubaus publik machten. Schon im Jahre 2001 hat die Gemeinde jenes Grundstück in der Bürenstraße, auf dem die ursprüngliche1938 von den Nazis zerstörteliberale Synagoge stand, von der Stadt zurückgekauft. Gelingt es der kleinen Gemeinde Hameln nun, unter den heute 20 liberalen Gemeinden in ganz Deutschland die erste mit einem neu gebauten Gotteshaus zu werden? Es gibt ausgesprochen gute Omen, unter denen das Vorhaben stehtund die Gemeindemitglieder, Sympathisanten und kommunale Unterstützer gleichermaßen optimistisch stimmen. Als Design-Architekt für den geplanten Neubau konnte Arnold A. Oppler gewonnen werden, der Urenkel jenes berühmten deutsch-jüdischen Baumeisters Edwin Oppler (18311880). Arnold Oppler, Jahrgang 1957, lebt in Silver Spring, Maryland (USA), und erfuhr, wie Rachel Dohme berichtet, «durch eine glückliche Fügung» von dem Projekt. Spontan fand er sich bereit, die Familientradition fortzusetzen: «Es ist mir eine Ehre, in die Fußstapfen meines Urgroßvaters zu treten und dieses Gotteshaus neu errichten zu dürfen», schreibt Arnold Oppler im Prospekt der Synagogenstiftung. Mit Hilfe von großen und kleinen Spenden soll nun auf historischem Boden ein Zentrum für lebendiges und pluralistisches Judentum entstehen. Nahezu die ganze Stadt, einschließlich der Kirchen und interreligiöser Organisationen, stehen hinter dem Vorhaben. Entsprechend offen soll die konzipierte Synagoge mit integriertem Gemeindezentrum dann auch für die Öffentlichkeit sein. Der von Arnold Oppler geplante Bau sieht unter anderem einen multifunktionalen Gebetssaal, ein Museum für Toleranz und eine Bibliothek vor, letztere beide auch für nichtjüdisches Publikum gedacht. Das enge Miteinander von jüdischer Gemeinde, Kirchengemeindenkatholische wie evangelische, Kommunalverwaltung und Kulturvereinen macht sich nicht nur dann bezahlt, wenn gemeinsame Festveranstaltungen auf dem Programm stehen. Es erweist sich auch dann als äußerst effizient, wenn «Unbelehrbare von gestern» ihren Fuß nach Hameln setzen wollen. So plante ein deutschlandweit bekannter Rechtspopulist für November 2004 eine «nationale Schulung» in der Stadt. Die Antwort war eine Protestkette von mehreren Tausend Menschenrund um die Innenstadt. «Es war ein furchtbar kalter und regnerischer Tag», erinnert sich Rachel Dohme, «aber irgendwie war uns allen doch warm.» |