Deister-und-Weser-Zeitung

Hameln
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7. März, 2014
Von seinen Vorfahren fehlt jede Spur

Australier Harold Brown gibt lebendigen Geschichtsunterricht / Seine Familie lehnt „Stolperstein“ ab

Von Wolfhard F. Truchseß,

Hameln. Von seiner eigenen Familie weiß Harold Brown, aus England stammender australischer Jude, nur, dass sein Vater im Jahr 1901 aus Polen nach London ausgewandert ist. „Den ursprünglichen Namen meiner Vorfahren habe ich nie erfahren“, berichtete er jetzt vor Schülern des 11. Jahrgangs der Handelslehranstalt (HLA) in der Synagoge der liberalen jüdischen Gemeinde in Hameln. „Man hat uns den Namen Brown zugewiesen, wahrscheinlich, weil der polnische Ursprungsname für die Briten nicht auszusprechen war“, erzählt der 83-Jährige, der mit einer Enkelin des 1938 verstorbenen Hamelner Arztes Siegmund Kratzenstein verheiratet ist. „Und weil ich über meine eigene Familie und deren Schicksal während der Nazizeit nichts herausfinden konnte, habe ich im Internet nach Hameln gesucht.“ Dabei sei er auf die Websites von Historiker Bernhard Gelderblohm und der Gemeindevorsitzenden Rachel Dohme gestoßen. So entstand der Kontakt zu Hameln und der jüdischen Gemeinde.

Harold Brown ist nicht zum ersten Mal in der Stadt. Schon vor Jahren war er mit seiner Frau Eva hier und brachte dem Museum ein besonderes Geschenk mit: das Brautkleid seiner Frau. Das Tuch aus belgischer Spitze hatte ihre Mutter in den Wirren ihrer Flucht aus Deutschland Richtung Australien aufbewahrt und es selbst im damals von den Japanern besetzten Indonesien im Dschungel retten können. Über den Großvater Siegmund Kratzenstein weiß Brown nur, was er hier aus Hameln erfahren hat: Dass er nach der Pogromnacht am 9. November 1938 von den Nazis inhaftiert und im Konzentrationslager Buchenwald schwer misshandelt worden war und seinen Verletzungen schon kurz nach seiner Entlassung aus Buchenwald Ende November 1938 erlegen war.



Rabbi Irit Shillor und Harold Brown
bei der Steinsetzungszeremonie in 2006

Heimliche nächtliche Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof.

Viele Jahre blieb unbekannt, wo er seine letzte Ruhe fand. Erst vor wenigen Jahren meldete sich ein Zeitzeuge, der dieses Geheimnis nicht ins Grab mitnehmen wollte. Er hatte Kratzenstein heimlich zu mitternächtlicher Stunde auf dem alten jüdischen Friedhof bestattet. Heute erinnert ein Grabstein auf dem Friedhof an den in Hameln damals sehr beliebten Arzt.

Brown selbst erlebte in London als Kind den Bombenkrieg, mit dem Hitler-Deutschland die britische Hauptstadt überzog. „Aber wir hatten Glück. Nur einmal schlug bei uns eine Bombe im Kohlenkeller ein und ließ die Kohle in Flammen aufgehen. Mehr ist uns und auch meinem Vater, meinem Bruder und meinen Cousins während des Krieges nicht passiert.“

Dass Brown nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nach Palästina ausgewandert war, verdankt er dem Überleben eines jüdischen Freundes, der von einem Schiff, voll beladen mit Waffen und Munition für die jüdische Untergrundorganisation Haganah, vor der Küste von Palästina ins Meer gesprungen war und dieses Wagnis nur knapp überlebt hatte. „Das war mir dann doch zu gefährlich“, schilderte Brown seine damaligen Gedanken. In London hatte er als junger Mann für die Jewish Agency für Palästina gearbeitet und so bedeutende Männer wie den späteren ersten Außenminister Israels, Abba Eban und Chaim Weizmann, kennengelernt. In Australien begann Brown als Schuhverkäufer, wurde Taxifahrer, Servicemann für Bürodrucker und schließlich Manager und Entwickler digitaler Geräte, die er jetzt auch auf der weltweiten größten

Computermesse Cebit in Hannover erfolgreich an den Mann bringen will. Siegmund Kratzensteins Enkelin Eva und ihr Mann Harold haben der Stadt übrigens untersagt, vor dem Haus, in dem Kratzenstein gelebt hatte, einen „Stolperstein“ mit dem Namen des Arztes installieren zu lassen. „Wir wollen nicht, dass sein Name noch einmal mit Füßen getreten wird“, begründete Brown vor den Schülern seine Abneigung gegen diese Form des Gedenkens.