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Wie ein Heiliger verehrt, wie ein Hund gequält

Dewezet, 8 September 2006
Christa Koch
Nachdruck genehmigt durch den Autor Frau Christa Koch



Dr. David Brown, Herr Josef Specmann
und Harold Brown. Foto: Dana Pollock

HAMELN (CK). Er war in Hameln so etwas wie ein Heiliger—Arzt, Menschenfreund und der letzte Vorsteher der Synagoge. Im Spätherbst des Jahres 1938 starb der Jude Dr. Siegmund Kratzenstein an den unmittelbaren Folgen der furchtbaren Misshandlungen, die die Nazis ihm im KZ Buchenwald zugefügt hatten. Josef Speckmann, seinerzeit 16-jähriger Lehrling einer Gärtnerei in der Domeierstraße, sorgte dafür, dass der allseits beliebte Arzt heimlich beerdigt wurde. Und gestern ließen dessen Nachkommen Harold Brown (Ehemann der Enkelin Eva) und David Brown (Kratzensteins Urenkel) für den Verstorbenen einen Grabstein auf dem jüdischen Friedhof an der Scharnhorststraße setzen.

Früherer Lehrling brachte Stein ins Rollen

Vorausgegangen waren langwierige Recherchen, an denen vor allem der Hamelner Historiker Bernd Gelderblom und Rachel Dohme, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, beteiligt waren. Den Stein ins Rollen aber hatte Speckmann gebracht, jener Gärtnerlehrling, der heute fast 83 Jahre alt ist und der in Hamm in Westfalen lebt. „Ich war in den letzten Jahren viel im Krankenhaus und habe viel nachgedacht. Und als ich nachts im Fernsehen eine Sendung über Hameln sah, ist mir wieder eingefallen: Da ist noch etwas in Ordnung zu bringen“, so Speckmann gestern.

Der Senior wandte sich an Rachel Dohme und zeigte ihr die Stelle, an der er Kratzenstein damals verbotenerweise beerdigt hatte. „Ich war beileibe kein Held. Mein Chef hatte an meine Menschlichkeit appelliert“, wehrt er bescheiden jedes Lob ab. Nachts sei er damals mit einer Stalllaterne und mehreren älteren Hamelnern, die Kratzenstein die letzte Ehre erweisen wollten, auf den Friedhof geschlichen, habe die beste Stelle ausgesucht und sein Werk vollendet, erinnert er sich.

In Rachel Dohme fand Speckmann eine „außergewöhnliche Gesprächspartnerin“ und die wiederum in Gelderblom einen kompetenten Helfer. So gelang es schließlich, die Angehörigen des Verstorbenen im fernen Australien ausfindig zu machen.

Und Harold und David Brown ließen gestern einen schlichten schwarzen Stein setzen, der an Dr. Kratzenstein erinnern soll. „Er hatte immer seiner Gemeinde gedient und wusste, dass er sterben würde. Aber ich bin stolz, dass diese Gemeinde ihn damals trotz der großen Gefahren durch die Nazis hier in Hameln beerdigt hat“, sagte Urenkel David ergriffen.

Und auch Schwieger-Enkel Harold war trotz der Traurigkeit des Anlasses sichtlich gerührt. „Ich habe hier wundervolle Geschichten über den Großvater meiner Frau gehört. Was er für die Bürger getan hat, aber auch, was sie für ihn getan haben. Ich glaube, wir alle schulden ihm viel Respekt.“ Und: „Ich bin sicher, er wäre sehr zufrieden, dass die Steinsetzung nach fst 70 Jahren nun endlich geschehen ist.“