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19 April 2020

Mah Nishtanah: Warum wird unsere Lesart dieser Parascha
so sehr von all den anderen Jahren? | Parashat Tazria-Metzora

Rabbi Dr Ulrike Offenberg | Jüdische Gemeinde Hameln, Hameln
Published by WUPJ.org


An diesem Schabbat lesen wir die Doppelparaschah von Tasria-Metzora. Moderne Menschen empfinden bei diesen Texten im allgemeinen ein großes Unbehagen. Wir hören hier von Hautaus­satz, Entzündungen, der Absonderung von Körperflüssigkeiten und ähnlichen, als krankhaft beschriebenen körperlichen Ver­ände­rungen. Die Symptome lassen sich nicht einem eindeutigen Krank­heitsbild zuordnen, vielmehr ist ihnen gemein, dass sie als bedrohlich und ansteckend angesehen werden. Und die unheim­lichen Erscheinungen beschränken sich nicht allein auf Menschen – auch Kleidung oder die Wände eines Hauses können von einem Ausschlag befallen sein. Ein Priester hat diese Veränderungen in Augenschein zu nehmen und danach über den religiösen und den gesellschaftlichen Status der betroffenen Person zu entscheiden. Rein oder unrein, tahor oder tamé – das ist hier die Frage. Ver­schwinden oder verändern sich die Symptome nach sieben Tagen Quarantäne? Kann diese Person in ihr soziales Umfeld zurückkehren, wieder mit der eigenen Familie leben? Darf dieser Mensch wieder das Heiligtum betreten, oder muss er wegen der Krankheit auch Distanz zu Gott wahren? Schon allein von all diesen Prozeduren zu lesen, ist spirituell nicht sehr erbaulich. Aber geradezu verstörend wirkt die Verpflichtung des Kranken, umherzugehen und andere vor sich zu warnen. Wir lesen im Dritten Buch Mose, Kap. 13, Vers 45f:

„Der Aussätzige, der diesen Ausschlag an sich hat, dessen Kleider seien zerrissen und sein Kopf sei entblößt und bis ins Gesicht soll er sich verhüllen und rufen: ‚Unrein! Unrein!'. Die ganze Zeit, da der Ausschlag an ihm, ist er unrein; in Isolation soll er wohnen, außerhalb des Lagers sei seine Wohnung.“

Eine Krankheit, etwas, das nicht unserer Kontrolle unterliegt, entscheidet über Fragen von ritueller Reinheit oder Unreinheit, über die Teilhabe am Gottesdienst oder der Maßgabe, sich davon fern zu halten. Die betroffenen Menschen werden vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen – all das widerstrebt unseren religiösen und sozialen Grundüberzeugungen. Es ist darum nicht überraschend, dass moderne Torahkommentare der Lesung von Tasria-Metzora stets sehr lange Erklärungen voranstellen, und Rabbiner predigen meist gegen diese Texte, anstatt ihre Botschaft der Ausgrenzung zu preisen.

Aber dieses Jahr ist alles anders. Dieses Jahr haben wir eine andere Einsicht in diese Texte gewonnen. Bei uns geht es nicht um Aussatz, sondern um eine Lungenkrankheit, aber die gesellschaftlichen Maßnahmen ähneln sich doch sehr. Abschottung und Quarantäne, in unserer Paraschah finden wir all das, was heute unser Leben bestimmt. Wir wissen um die durch die Infektionsgefahr bedingte Einsamkeit – der an COVID-19 Erkrankten, aber die Einsamkeit auch von anderen Patienten in Krankenhäusern und von alten Menschen in Pflegeheimen. Und wieviel Trost und Nähe kann man schon über digitale Medien vermitteln, zumal viele dazu keinen Zugang haben?! Nur, jetzt scheinen wir das hinzunehmen, weil Schutz allein im Kontaktverbot zu bestehen scheint!

Warum ist dieses Jahr unsere Lesart von Tasria-Metzora eine andere? Dieses Jahr identifizieren wir uns mit der anderen Perspektive, nicht mit der des Erkrankten und seinen sozialen und religiösen Bedürfnissen, sondern mit der Sicht des Priesters, der allein über Reinheit und Unreinheit zu entscheiden hat, und mit dem Bedürfnis der Gesellschaft, sich vor Ansteckung zu schützen. Wir stimmen zu, dass eine Zeit lang die emotionalen, sozialen und ökonomischen Belange zurückgesetzt werden, um die Verbreitung des Virus einzudämmen und das Leben hunderttausender und Millionen Menschen zu retten. Und was den Ausschluss vom Heiligtum anbelangt, lernen wir gerade, dass Keduschah – Heiligkeit – nicht allein in Ritualen oder im Gottesdienst erfahren wird. Keduschah finden wir vor allem im Schutz des menschlichem Lebens, dem Ebenbild und der Präsenz Gottes in dieser Welt.

Geradezu als Kontrapunkt zum Text der Torah lesen wir die Haftarah, den Prophetenabschnitt aus 2. Könige 7, 3-20. Hier begegnen wir vier aussätzigen Menschen, die – von ihrer eigenen Gesellschaft ausgeschlossen und dem Hungertod überlassen – in einem Akt von Mut und Verzweiflung eben diese Stadt retten. Im Moment ihres Triumphes erinnern sie sich an das Gebot von Nächstenliebe und Solidarität, Dinge, die ihnen selbst verweigert worden waren. Sie sorgen dafür, dass die hungernde Stadt Nahrung und Freiheit erlangt. Diese Geschichte lehrt uns, dass eine Gesellschaft nicht allein durch harsche Restriktionen und durch medizinische Lösungen geschützt wird. Langfristig kommt es vor allem darauf an, wie eine Gesellschaft mit einer Krankheit und mit den Kranken umgeht. Die Haftarah berichtet uns, dass es die am geringsten geachteten Menschen sind, die der Stadt Erlösung und Rettung bringen. Und auch wir lernen gerade, welche Berufe systemrelevant sind – und siehe da, meist sind es die unterbezahlten Krankenschwestern, Altenpfleger, Angestellten von Supermärkten, Verkehrsbetrieben und Kraftwerken, öffentliche Bedienstete in Polizei und Gesundheitsämtern.

In einer Zeit von sozialem Kontaktverbot kommen wir auf einmal Texten nahe, die uns etwas darüber erzählen, was Gemeinschaft und respektvolle Beziehungen bedeuten und wo Heiligkeit gefunden wird.